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Ich sah über das Meer zum Horizont und dachte an dich.

Ich dachte an dich

Heute verließ ich mit der Fähre die Insel der Stille. Zwei Wochen waren wir dort im Urlaub und nun ging es nach Hause. Zurück in den Wahnsinn dieser Welt. Ich habe 2 Wochen die Stille dieser Insel und das Meer genießen dürfen, soweit ich das konnte.

 

Nun stand ich hier auf der Fähre, sah den Wellen zu, die den Weg der Fähre nachzeichneten, bis hin zum Horizont. 

Ich schaute über das Meer, hin zu den kleinen Sonnenstrahlen, die Licht in die Dunkelheit brachten und auf dem Waser Glitzer verteilten. Ich dachte an dich.

 

Ich erinnerte mich, wie die Wellen deine Meer-blaue Urne wohlig umspülten und langsam auf die Sandbank in der Tiefe geleiteten. Im klaren Wasser der See sah ich sie noch lange schimmern. Das Meer flüsterte leise: Jenny ist tot. 

Noch immer ist es schwer für mich. Noch immer ist meine Welt kaputt. Ich bin am Leben, aber lebe ich? Ich bin weit von mir selbst entfernt, Gefühle sind verborgen und reden mag ich auch nicht. Ich lebe. Irgendwie. Du bist tot.

Ich sah an den Horizont und dachte, es gibt immer ein Licht, man muss es nur sehen. Licht verzaubert die Welt, so wie es heute das Meer verzauberte. Durch eine Vielzahl von dicken dunklen Wolken, durch eine kleine Lücke nur, schafften es die Sonnenstrahlen hinab zum Meer. Licht am Horizont. Ich dachte an dich.

 

36 Jahre jung, zu jung um aufzugeben, zu jung um zu sterben. Doch du hast eine andere Entscheidung getroffen. Auch wenn es mir den Magen umdreht, mich fast verrückt macht. Ich weiß, wenn ich sterben will, dann finde ich einen Weg, dann finde ich den Zugang zu Medikamenten oder Drogen, die den Tod bringen ohne eine Spur zu hinterlassen. Doch noch immer warte ich auf die Obduktionsergebnisse. Trotz dem Wissen, dass ich meine Fragen nicht beantwortet bekomme. Du bist tot und es war deine Entscheidung. Du hast dein Leben ausgelöscht, vollständig und überlegt. Du wolltest nicht mehr leben.

 

20 Jahre hast du gelacht, geliebt, geweint, bist hingefallen und wieder aufgestanden, hast eine Beziehung begonnen und beendet. Du bist nie angekommen, in deinem Traum. In deinem Traum von einer eigenen Familie. Du hast sie gesucht und nie gefunden. Immer wenn du glaubtest am Ziel zu sein, zerbrach deine Liebe.

 

Es zerbrach "nur" eine Beziehung, doch für dich war es mehr. Ich erinnere mich gut, wie du mir sagtest, mein Leben geht gerade den Bach runter. Nein, dein Leben ging nicht den Bach runter, auch wenn du genau so fühltest mit all deinen Sinnen. Jede Trennung war ein Stück deines Lebens. Jede Trennung rückte deinen Familienwunsch wieder in weite Ferne. Jede Trennung versagte dir den Kinderwunsch. Du wurdest älter und älter und kamst nie an.

 

Auch wenn die ersten Trennungen noch nicht so bedeutend waren, da ein anderer Mann schon dein Herz erobert hatte, dich auf Händen trug, war es doch immer ein Lebensbruch für dich. So lange ich mich zurück erinnern kann und auch jetzt von deinen Freunden hörte, war eines immer gleich.

Am Ende deiner Beziehung hattest du nichts weiter als 3 Koffer mit deinen Habseligkeiten, die du auf diese Weise, mitnehmen konntest. Es gab niemals einen Weg zurück für dich. Du konntest nicht mehr zurück, nicht mal um noch irgend etwas zu holen. Dazu brauchtest du Hilfe, die dir ich und dein Bruder, in deinen ersten Beziehungen, gaben. Erinnerst du dich. Erinnerst du dich, dass dein Bruder es war, der dir dein Fahrrad aus der Wohnung holte? Erinnerst du dich, dass dein Bruder den aufgebrachten Mann beruhigte und dazu brachte, dich in Ruhe zu lassen? Bestimmt nicht.

 

Du hast die Beziehungen völlig gelöscht. Kein Bild, kein Geschenk, nichts hast du behalten. Du hast den Menschen, den du einmal geliebt hast, einfach total aus deinem Leben gelöscht. Du hast auch nie mehr über das Leben in der vergangenen Beziehung gesprochen. Es war vorbei. 3 Koffer und gelöschte Lebenszeit blieben dir. Du wolltest dich nicht mehr erinnern. Selbst von deiner Hochzeit gibt es keine Fotos mehr. Gelöscht. Was blieb dir dann im Rückblick? Leere, gähnende Leere. Das ist schlimm und es hat dich krank gemacht.

 

Du hast nicht aufgegeben. Hast neu angefangen. Immer und immer wieder. Doch nun bist du tot. War die letzte Trennung eine zu viel? Wieder zurück auf Anfang, mit 3 Koffern. Allein leben in einer Wohnung. Die Familie weit entfernt. Freunde weit verstreut. Berlin war ganz sicher nicht die Stadt deiner Träume und nicht deine Heimat. Niemand konnte dir helfen. Niemand sollte dir helfen. Dein 36. Geburtstag war nicht mehr weit und du warst wieder einmal meilenweit von einer eigenen Familie entfernt. Du wolltest nie eine alte Mutter sein und nun würdest du schon 36 Jahre "alt". War das für deine kranke Seele zu viel? Wolltest du nicht mehr allein sein? Konntest du nicht allein leben? Hast du deine Träume aufgegeben?

 

Ich kann es so gut verstehen und doch sage ich dir, es war zu früh. Zu früh um auf zu geben. Zu früh um deinem Leben jede Chance zu nehmen, das Glück auf Dauer noch zu finden. Ich musste 47 Jahre werden, um zu verstehen was Liebe und Glück bedeutet. Ich habe dafür gekämpft. Du hast es nicht verstanden. Leider.

Du hattest noch alle Zeit der Welt den richtigen Mann, den Vater deiner Kinder, kennenzulernen und ein glückliches Familienleben zu führen. Du warst noch so jung. Du bist tot. Du hast dich anders entschieden.

 

Mein Herz ist schwer, meine Seele weint und ich schau hinaus in die Wellen des Meeres. Ich schaue hinaus zum Horizont, wo das Licht leuchtet. Du bist tot und deine Urne liegt auf dem Grunde des Meeres. Jede Welle, jedes plätschern erzählt mir nun von dir. Erzählt mir, dass es dir jetzt gut geht, da wo du jetzt bist. Mein Herz blutet, denn es wünscht sich so sehr, es wäre anders. 

 

Ich dachte heute an dich. Ich dachte gestern an dich. Ich sehe über das Meer, verlasse die Insel der Stille und denke an dich. Du bist tot. Ich bin auf dem Weg nach Hause. Dorthin wo mir wieder irgendein Brief unbarmherzig sagt: Du bist tot und das Meer singt deine Lieder.

Ich vermisse dich.

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